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SZ vom 21.09.2016: Rrrrruuuuhee!!! - Druckversion

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SZ vom 21.09.2016: Rrrrruuuuhee!!! - hubert eckart - 21.09.2016

Ein Artikel aus der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 21.09.2016

http://sz.de/1.3171283

Panorama, 21.09.2016

Dauerbeschallung

Rrrrruuuuhee!!!
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Von Titus Arnu

Es ist dunkel und laut. Aus den Boxen wummert brutal der Bass, ein Synthesizer blubbert dazu, und die Sängerin der Band Style of Eye quäkt: "Louder!" Dabei ist es neben den Kleiderständern schon so laut wie neben einem Presslufthammer. Wir befinden uns nicht in einem Club, sondern in einem dieser überteuerten Jeansläden in der Münchner Innenstadt. "Louder! Louder!", schreit die Sängerin. Nein, bitte nicht.

Also raus aus dem schummrigen Großraumdiscomodeladen und zur Erholung rüber ins Kaufhaus. Dort duftet es nach Parfum, und aus heimtückisch an der Decke montierten Mini-Lautsprechern rieselt dumpfe Dudelmusik. Es ist eine Sprinkleranlage des schlechten Geschmacks: Drittklassige Streicher zersägen den Bossa-Nova-Klassiker "Girl from Ipanema". Ein Saxofonist versucht, James Blunts Schmalzhymne "You're beautiful" noch schmieriger zu machen. Als Zugabe folgt der unvermeidliche Beatles-Klassiker "Hey Jude" in der Instrumentalversion, mit Hammondorgel, Cello und Glockenspiel - ein Titel, der einen nervlich an die Grenze des Aushaltbaren bringt.

Überall gibt es was auf die Ohren, ob wir wollen oder nicht: im Supermarkt, im Modeladen, im Hotelfahrstuhl, am Flughafen, beim Zahnarzt, bei Behörden, im Baumarkt, selbst auf dem vermeintlich stillen Örtchen von Restaurants ist man nicht sicher vor der musikalischen Folter. Bei vielen Leuten erzeugt die Dauerbeschallung keinen Kauf-, sondern einen Fluchtimpuls, sie fühlen sich musikalisch terrorisiert. Und deshalb hat sich vor einiger Zeit in England die Bewegung "Pipedown" formiert, die es sich zum Ziel macht, der "wenig ernst genommenen Geißel unserer Zeit Einhalt zu gebieten". Die Bewegung hat inzwischen auch in Holland, Belgien und Deutschland Fuß gefasst.

Rolf Clausen, Vorsitzender des Vereins "Lautsprecher aus", dem deutschen Ableger von Pipedown, kämpft seit Jahren gegen die Beschallung von öffentlichen Orten. Er hatte vor seiner Pensionierung eine Firma für Computertechnik in Arztpraxen, nebenher spielte er Orgel in einer Hamburger Kirche. Wenn er im Baumarkt einkaufen geht, fühlt er sich häufig persönlich beleidigt von der zweifelhaften musikalischen Untermalung. "Oft gehe ich als Erstes in die Abteilung, wo es Gehörschutz zu kaufen gibt, setze mir die Dinger auf den Kopf und erledige anschließend den Einkauf", sagt er. Natürlich wird er dann vom Personal schräg angeschaut, aber das stört Clausen weniger als der Soft-Pop aus den Lautsprechern. Mehrere Hundert Vereinsmitglieder denken wie er, zu den Unterstützern gehören unter anderem Pianist Vladimir Ashkenazy, Dirigent Sir Neville Marriner, Geiger Gidon Kremer und Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar.

Leicht verdauliche Musik soll angeblich den Umsatz in Kaufhäusern steigern
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Aber: Existieren nicht viel schlimmere Dinge als die Instrumentalversion von Simon & Garfunkels "Bridge over troubled water?" Das ekelhafteste Geräusch der Welt, haben Forscher der Universität Salford in Manchester ermittelt, ist lautes Erbrechen. Die Wissenschaftler befragten rund eine Million Menschen auf der ganzen Welt und erstellten eine Hitliste des hörbaren Grauens. Ganz oben: die Rückkopplung eines Mikrofons, das Kratzen eines Fingernagels auf einer Schiefertafel, das Quietschen eines bremsenden Zuges, eine falsch gespielte Geige. Doch es gibt auch leisen Lärm. Und der kann genauso heftig nerven. Leicht verdauliche, dezent abgespielte Hintergrundmusik soll angeblich den Umsatz in Kaufhäusern steigern. Es gibt allerdings keine wissenschaftlichen Studien, die das belegen.

Die flächendeckende musikalische Belästigung hat ein Herr namens George Owen Squier zu verantworten, der 1934 die Firma Muzak gründete. Diese lieferte Hintergrundmusik für Aufzüge und später für Supermarktketten, Hotels und Restaurants. Mehr als 250 000 Abonnenten und schätzungsweise 80 Millionen Hörer pro Tag machen das Unternehmen aus Fort Mill in South Carolina zum größten Lieferanten für verkaufsfördernde Musik in den Vereinigten Staaten und elf weiteren Ländern. Der Firmenname ist längst ein Synonym für oberflächliche Dudelmusik. Muzak ist Musik ohne Musik. Sie wurde von Profimusikern, Psychologen und Medizinern ausgetüftelt, die Programme sind auf Tageszeit und Biorhythmus der Kunden abgestimmt. Das Tempo entspricht dem menschlichen Puls, gesungen wird nie, weil Stimmen und Texte ablenken würden. Am späten Vormittag und am Nachmittag, wenn die Aufmerksamkeit sinkt, wird die Musik unmerklich schneller. Umgekehrt dient sanfte Streichmusik als Beruhigungsmittel, wenn sich am hektischen Samstagvormittag Tausende Einkaufswütige durch die Geschäfte drängeln. Der Kunde soll in einen Wellness-Zustand gefiedelt werden, ohne dass er es merkt.

Der Dirigent Leonard Bernstein hatte schon 1962 vor Muzak und der "Erziehung zum Weghören" gewarnt. Vereine wie Pipedown, die Schweizer "Liga gegen den Lärm" und "Lautsprecher aus" setzen sich deshalb dafür ein, dass man die NichtMusik konsequenterweise gar nicht spielt. In England wurden bisher die größten Erfolge erzielt. Der Flughafen Heathrow stellte die Dauerberieselung ab. Die Kaufhauskette Marks & Spencer verpflichtete sich kürzlich, die Musik in ihren Filialen ganz sein zu lassen. Es gibt britische Restaurantführer, die ausdrücklich auf die Beschallungssituation in Lokalen eingehen.

In Linz signalisieren an manchen Ladentüren Aufkleber: "Beschallungsfrei"
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Die deutschen Lärmschutz-Aktivisten fühlen sich dem elften Gebot des verstorbenen Satirikers Robert Gernhardt verpflichtet, der prägnant forderte: "Du sollst nicht lärmen!" Rolf Clausen findet: "Es wäre ein Alleinstellungsmerkmal, wenn ein Laden keine Musik spielt." Auf der Website des Vereins sind Restaurants aufgeführt, in denen keine Musik läuft, allerdings ist die Liste noch stark ausbaufähig. Clausen gibt zu, dass die Erfolgsrate noch niedrig ist. "Aber wenn mir einer vor 20 Jahren erzählt hätte, dass Rauchen in Restaurants verboten wird, dann hätte ich ihm den Vogel gezeigt", meint er - und hofft auf ein Umdenken auch auf musikalischer Ebene.

Wie das funktionieren kann, zeigt eine Initiative in Linz in Österreich. Eine Kampagne der Initiative Hörstadt, zwei Gewerkschaften und der Kirche weist Geschäfte und Lokale aus, die auf Hintergrundmusik verzichten. Ein Aufkleber an der Ladentür signalisiert: "Beschallungsfrei"; wer lieber laute Popmusik hört, kann ja zu Abercrombie & Fitch gehen. Rolf Clausen plädiert für Toleranz auch andersherum: "Wir sind kein Verein des gehobenen Geschmacks - jeder soll das hören, was er will." Also gerne auch mal gar nichts.


Titus Arnu
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Titus Arnu, Jahrgang 1966, arbeitet seit 2006 für die Redaktion Panorama. Zuvor war er beim Magazin SZ Wissen, schrieb für das SZ-Magazin, Spiegel, Geo, National Geographic und Mare. Er besuchte die Deutsche Journalistenschule und studierte Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Journalistik in München. Bislang bizarrster Job: Europa-Korrespondent einer japanischen Hundezeitschrift.


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Hubert Eckart
Deutsche Theatertechnische Gesellschaft
Kaiserstraße 22
53113 Bonn

www.DTHG.de



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RE: SZ vom 21.09.2016: Rrrrruuuuhee!!! - Wesko Rohde - 22.09.2016

Lieber Hubert,
als ADHSler leide ich auch sehr unter Misophonie.
Die Unterdrückung von Mordgedanken in Geschäften mit Musik, ist Zeichen für meine emotionslose Selbstdisziplin.
Musik ist da, um Stille zu unterbrechen.

Beste Grüße
Wesko